Von St. Martin zu St. Leonhard
Die Lainsitz zwischen St. Martin und Schöllbüchl (2003)
Unterhalb der Brücke des Josef Wandl aus dem Jahr 1888 beginnt unsere
Aprilwanderung, die uns bis Schöllbüchl führen soll. Der Fluss verlässt auf
dieser Strecke den Fuß des Wachberges und dreht in Roßbruck um das
Mitterbühel in nordöstliche Richtung. Gleich nach St. Martin treten links
die Häuser der Zeil weit zurück, der Talboden wird breiter, knapp vor
Roßbruck wird es wieder eng, dafür schwindet zuletzt auch die Kuppe, die den
Fluss links begleitet und ein weites und sanft ansteigendes Tal öffnet sich
nach Westen bis zur Wand der Zeiler Berge, den Vorläufern des Nebelsteins.
Aus diesem Tal strömt das kleine Föhrenbächlein vereint mit dem Aubächlein
herbei und mündet in Roßbruck in unseren Fluss.
Die Lainsitz verlässt die Berge ihrer Jugend in St. Martin.
Vielleicht ist das die Rechtfertigung für das Privileg, ursprünglich auch
Lainsitz geheißen haben zu dürfen. Selbst an einem Tausender, dem
Eichelberg, entsprungen, säumen einige weitere dieser hohen Berge den
Jugendweg der Lainsitz: rechts Tischberg und Ahornstein, links Myslivna und
Bärenstein. Der Wachberg zuletzt auf der linken Seite mit seinen 931 Metern
erhob sich noch dreihundert Meter über den Fluss. Die hohen Berge auf der
rechten Seite sind schon seit der Nordwende in Steinbach Geschichte.
Grundberg, Kögelberg und Mitterbühel vis-a-vis des Wachberges reichen danach
gerade noch 200m, 150m bzw. 100m über den Bach. Aber selbst damit ist jetzt
Schluss. Es ist aber trotzdem nicht so, dass das unmittelbare Tal der
Lainsitz auch breit und offen wird, im Gegenteil! Ab Schöllbüchl vertieft
sich der Bach in ein klammartiges, schmales Tal, den Graben, der in gewisser
Weise im Gabrielental und im Ledertal seine Fortsetzung findet und der die
Lainsitz erst unterhalb Weitra wieder freigibt. Und mit der Lainsitz gehen
auf dieser Strecke auch die Dörfer in den Untergrund, mit der Enge des Tales
rücken die Häuser dicht an die Ufer des Baches.
Doch pomali! Der letzte Kontakt zu St. Martin ist die Rückwand des
Feuerwehrdepots, danach kommt ein Obstgarten, der hinauf zur alten Straße
reicht, wo Pfarr– und Howigerhof stehen. Es folgt ein kleines Marterl und
das neu verputzte Gemeindehaus, das knapp vor meiner Geburt an der Stelle
eines Armenhauses errichtet worden ist. Auch die Post hat ihr Amt in diesem
Haus mit der Adresse 3971 St. Martin 1. Die Kirche dreht sich wehmütig zu
uns um, vielleicht weil wir sie nicht besucht haben. Wir kommen sicher noch,
lieber Martin - doch du standest so weit weg vom Bach.
Schon nach wenigen Flussmetern quert die neue Bundesstraße über eine fast
ebenso neue Brücke den Fluss. Sie stand jahrelang ohne Aufgabe in der Wiese,
wartete auf die Straße, die von Gmünd herauf ausgebaut wurde und deren
Ankunft sich verzögerte. Vielleicht hat dieses lange Warten sie mürbe
gemacht. Denn im Gegensatz zu der weit mehr als hundert Jahre alten
Wandlbrücke hat sie das Hochwasser vom August letzten Jahres nicht
überstanden. Sie wurde unterspült, senkte sich und musste ihren Dienst
quittieren. Seit damals rollt der Verkehr über eine Pionierbrücke des
Bundesheeres, die neben der kranken Brücke errichtet wurde. Ein Neubau der
ohnehin neuen Betonbrücke wird in diesen Tagen für viel Geld in Angriff
genommen.
Die meisten modernen Brücken sind eine Beleidigung. Eine Beleidigung
für den Fluss: Blickt man von unten auf, so sieht man nur blanken Beton,
ihre niedrigen und breiten Konstruktionen verdunkeln den Himmel, der Bach
wird zum Kanal. Eine Beleidigung für den Menschen: Die Brücken stehlen ihm
den Fluss. Fährt man über sie, deutet nichts an ihnen darauf hin, dass man
eine Brücke überquert. Ihre Richtung folgt der Straßenführung und beugt sich
nicht dem Fluss, was mit ein Grund für die Unterspülung der St. Martiner
Brücke war. Und darum ist es auch erst nötig, diese infantilen
hellblau-weißen Tafeln mit Flussnamen aufzustellen, um durch geschriebene
Zeichen auszudrücken, was das Bauwerk nicht vermag. Vielleicht baut man
irgendwann wieder einmal Brücken und holt die Bäche aus den Kanälen.
Die Wiese nach der Brücke ist vom Hochwasser über große Flächen mit Sand und
Schotter überdeckt worden. Man findet Glas und Tonscherben ohne Zahl darin.
Man sollte den Sand sieben und alles, was von Menschen stammt, sichten. Wer
weiß, was diese Scherben alles erzählen könnten!
Der Fluss pendelt einige Male leicht bis zu einem scharfen Knick. Die Weiden
des Baches dort verdecken die Sicht nach fast allen Seiten. Das hat ein
Raubvogel genutzt, um seine Mahlzeit zu halten. Nur die Federn seines Opfers
hat er zurückgelassen. Bienen summen daneben um die ersten Blüten der
Salweiden, um die Palmkätzchen.
Über einen Steg komme ich auf die weite Wiese links des Baches.
Ausgetrocknete Flussarme und Weiden an den Scheinufern erzeugen eine fremde,
fast pannonische Atmosphäre. Ein Reidl mit einem alten Backofen ragt in die
Wiese herein. Eine schauriges Detail am Rande: Hier soll 1890 die Schülerin
Maria Mörzinger bei einem Feuerchen beim Schafehüten verbrannt sein, als sie
sich wärmen wollte.
Der Fluss änderte über die Jahrzehnte grundlegend seinen Lauf in dieser
großen Bachwiese. Es ist kaum Gefälle vorhanden und der Boden ist weich.
Auf der Katastermappe von 1823 strömt die Lainsitz noch durch die heute
trocken liegenden Arme, die Weiden auf der Wiese wären damals noch am Wasser
gestanden. Andererseits sind auf dem Flugbild von 1974 noch weitere tote
Schlingen zu erkennen, insbesondere auch eine weit nach rechts ausholende,
die Anfang des 19. Jhdts. augenscheinlich schon trocken gelegen sind.
Der Bach drückt sich bald hart an die Bundesstraße, das Ufer ist stark
verwachsen. Auf der linken Seite hat jemand die Wiese versetzt, Bäume
gepflanzt. Bald wird es dunkel sein auf dieser Strecke. Dotterblumen und
Buschwindröschen blühen erst wieder am Ufer auf einer Wiese knapp vor dem
Wehr der Röhrenbachermühle.
Der Zeilerweg wird von einem Bergbuckel herangedrängt, ein Milchhaus steht
da, eine Brücke verbindet Weg und Straße. Hier wird es eng, zwei Straßen,
ein Weg und zwei Bäche streiten um den Platz. Der Mühlbach wechselt die
Straßenseite, Gänse leben auf dem ruhigen teichähnlichen Wasser, ihnen
gehören die virtuellen Häuser, die unter dem Wasser stehen. Mich haben schon
immer die alten Mauern aus unbehauenen großen Steinen entlang der Straße in
Roßbruck fasziniert. Manche stehen auch im Hang, scheinbar unmotiviert.
Sicher haben sie einmal einen Garten getragen.
Links auf der Anhöhe nach dem Milchhaus ein alter, gut proportionierter
grüner Vierkanter. Weiter unten der Meierhof der Herrschaft von Weitra. Das
Anwesen gehört seit 1880 den Fürstenberg, 1884 brannte es ab und wurde neu
aufgebaut. Es ist idyllisch dort, wo der Föhrenbach von dem erwähnten Tal
zwischen zwei Kleinhäusern hereinkommt. Das Hochwasser des Vorjahres hat
noch dazu eine rote Plastikrose für mich an einen Strauch am Ufer gehängt,
ein Gruß der Lainsitz an ihren Anbeter. Die nachfolgende Brücke war voll
überschwemmt, auch die Häuser am Ufer. Die B41 war lange gesperrt, weil das
Wasser hoch über die Brücke schoss.
Im Haus links an der Brücke war frührer ein kleines Wirtshaus,
Hochholdinger. Es ist schon lange geschlossen.
Nach der Brücke findet man rechts einen großen (derzeit leeren) Fischteich
und danach ein dunkel gehaltenes, großes Haus. „Pension Forellengrund“ oder
„Strömungs- u. Regeltechnik GS Wärmesysteme“ seien da zu finden. Ein
stilisiertes Wasserrad am Haus in einem Garten, den zu betreten bei Strafe
verboten ist, verrät das Haus als ehemalige Röhrenbacher- bzw. Stiedlmühle.
Die Säge war bis 1913 in Betrieb. Eine Ölpresse war dabei. Um 1900 Brand,
seit 1930 gibt es da ein Elektrizitätswerk. Um 1950 wurden Holzwaren von
Franz Röhrenbacher erzeugt. Ein Mühlrad dient heute als Platte für einen
Gartentisch.
Jemand pumpt auf der anderen Seite Wasser aus der Lainsitz in ein Güllefass.
Die zweitausend Liter werden nicht fehlen. Der Fluss ist unerschöpflich und
versiegt nie. Keiner muss dafür sorgen, dass Nachschub kommt. Natürlich weiß
man vom Kreislauf des Wassers, doch es wirkt trotzdem wie ein Wunder.
Die Bundesstraße verlässt in Roßbruck die Lainsitz, der sie seit Steinbach
folgte, steigt zu den Langfeldern hinauf, hier herunten im Graben folgt nur
ein kleines Sträßlein dem Bach und wechselt dabei häufig die Seite. Gleich
neben der ersten Brücke steht ein kleines Häuschen, ein alter Pflug davor,
die Mauern behängt mit rustikalen Antiquitäten. In einem Schaukasten ein
Text über dieses Haus, das der Besitzer „Inmannhaus“ nennt. Das ist
eine Sensation! Nur an der Papiermühle fand ich vorher eine Tafel mit
Hinweisen auf historische Gegebenheiten. Die Tafel hier in Schöllbüchl ist
dem heutigen „Inmann“ Karl Schmutz zu verdanken, der hier lebte, bis das
Hochwasser sein Haus zum leeren „Ohnmannhaus“ machte, weil der pensionierte
Bahnmeister nach Gmünd flüchten musste. Er schreibt dort weiter seine
Gedichte und Geschichten in Waldviertler Mundart und trägt sie in der Gegend
bei besonderen Anlässen vor. Ein Gedicht von ihm konnte ich auch im Internet
auftreiben: Bierige Sprüche für die Zwettler Brauerei.
Zum unerwartet schönen Höhepunkt der Strecke wird die Kapelle in
Schöllbüchl. Diese Privatkapelle des "Kapellen-Wandl"steht an einem
ausgezeichneten Platz rechts der Lainsitz, etwas erhöht auf freier Wiese.
Die Eheleute Johann und Theresia Stiftner vom nunmehrigen Wandlhof ließen im
Jahr 1861 die Kapelle erbauen, nachdem das vorher bestehende Bethaus
abgebrannt war. Das kleine Gotteshaus steht über einem offenen Kellerraum,
in dem alle möglichen alten Sachen gelagert sind, unter anderem eine
Rübenschneidmaschine, alle möglichen Tröge aber auch Weiden zum Flechten von
Körben und Binden von Besen. Vor der Eingangstür der Kapelle Bänke, von
denen aus man die Lainsitz hinauf schauen und sich die Sonne ins Gesicht
scheinen lassen kann. Auch wenn man drinnen in den Bänken sitzt, kann man
durch ein kleines Fenster direkt auf den Fluss sehen. Mir scheint, es ist
das erste Gotteshaus, von dem aus das der Fall ist. (Irrtum: Von der Kapelle
in Oberlainsitz müsste das eigentlich auch möglich sein! Ich habe sie glatt
übersehen, als ich dort vorbeiging! Das muss nachträglich überprüft werden!)
In der Apsis ein Altar mit einer großen Marienstatue, sechs lange Kerzen,
kleinere Motivkerzen, Kruzifixe. Auf das weiße Altartuch gestickt: „Sei
gegrüßt, o Königin!“. Hinten, neben der einfachen Eingangstür mit der
einfachen Klinke ein kleines Granitweihwasserbecken. Die Kapelle ist von der
Familie Wandl und den Einwohnern von Schöllbüchl im Jahr 1989 wunderschön
renoviert worden.
Hinten in der linken Kapellenecke ist eine männliche Figur postiert, die
eiserne Ketten mit Armschellen hält, wie man sie in unmenschlicheren Zeiten
zum Fesseln von Gefangenen und Geisteskranken verwendete. Der Bärtige trägt
eine Mitra, über einem schwarzen Kleid ein weißes Hemd, purpurfarbene Stola
und Schultertuch. Es könnte die Kleidung eines Abtes sein, soweit ich das
als Laie beurteilen kann. Zusammen mit der Kette wären das die Attribute
des heiligen Leonhard von Noblat. Er ist der Schutzpatron all derer, die
in Ketten liegen. Er ist aber auch, besonders in bayrischen Landstrichen,
der Patron der Haustiere und speziell der Pferde und gilt als der
„Bauernherrgott“ oder gar als der „bayrische Herrgott“. Sein Gedenktag ist
der 6. November, in manchen Gegenden finden an diesem Tag Leonhardiritte
statt, bei denen der Ortspfarrer auf einem Pferd durch den Ort reitet um
Schutz für Tier und Feld zu erwirken. Hier sind germanische und ältere
religiöse Elemente im christlichen Brauchtum erhalten geblieben. Das Pferd
war das besondere Opfertier der Germanen, wer Pferdefleisch aß, galt in den
ersten Jahrhunderten nach der Christianisierung schnell als Heide, wodurch
das Essen von Pferdefleisch verpönt wurde. Die Köpfe der geopferten Pferde
setzte man auf die Giebel der Häuser, um Schutz vor Gefahren zu bezwecken.
Diese beiden gekreuzten Pferdeköpfe sind in unseren Tagen nur noch im Logo
einer Bank präsent und in dieser Form vielleicht immer noch wirksam.
Die Wandlkapelle in Schöllbüchl wird meine Lainsitzkapelle. Sie lacht
dem Fluss von weitem entgegen. Sie wurde von Bauern gestiftet, von den
Einwohnern des Ortes renoviert, sie wird von Bauern liebevoll gepflegt. Der
heilige Leonhard hält die gelösten Ketten von einem, dessen Freilassung er
bei seinem Herren erwirken konnte. Er ist gewiss ein Heiliger der so
genannten einfachen Leute. Maria ist immer eine sehr unprätentiöse, nicht
anmaßende Königin. Und Jesus am Kreuz ist in dieser Hütte Gott aber auch
glaubhaft und wirklich Mensch. Die Tür ist offen, jeder ist willkommen in
diesem bäuerlichen Gotteshaus, das mehr religiöse Kraft ausstrahlt, als jede
pompöse Kathedrale. Betet man darin, so ist man nach Norden gerichtet,
dorthin, wohin auch der Fluss strömt. Die Bitten, die man hier vorbringt,
nimmt die Lainsitz mit und bringt sie näher vor die Götter. Damit diese
unser Flehen besser (er)hören können.
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Wandlkapelle auf
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